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1. Januar 2000 / Polar-Journal

Antarktis – Vorstellung und Wirklichkeit

Sechs Kontinente schwimmen auf unserem Planeten Erde. Drei davon, Europa, Afrika und
Asien, waren den Abendländern bekannt. Sehr viel weiter als über das Mittelmeer hinaus kamen
weder Römer noch Hellenen. Die Abendländische Seefahrt setzte erst im 15. Jahrhundert unserer
Zeitrechnung ein.

Europa erlebte damals eine Art Bevölkerungsexplosion. Als Christoph Kolumbus Amerika entdeckte, folgten seinen Spuren bald militärische Eroberer, Missionare, Ausbeuter und Profiteure
aus Spanien, Portugal und Britannien. Dreissig Jahre nur nach der Entdeckung Amerikas traf Kapitän Juan Sebastian del Cano von seiner Umsegelung der Erde in Spanien ein und bewies damit klar: Die Erde ist rund! Was aber lag auf der «unteren Seite» unserer Erde? Die holländische Entdeckung «Terra Australis» lag im Osten, eventuell im Südosten. Wo aber lag das Südland? In gelehrten Kreisen einigte man sich: Das eben entdeckte Australien musste ein Ausläufer des sagenumwobenen Südlandes sein.

Es sollte noch drei Jahrhunderte dauern, bis das Südland entdeckt und in seinen Umrissen bekannt war. Hinter gewaltigen Meeren, geschützt von einem Wall aus Sturm und Frost, verbarg sich der sechste Kontinent. Seit Millionen Jahren, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, war dort die Zeit stillgestanden.

400 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung bereits lehrte der hochangesehene Grieche Platon, die Erde könne nur ein Gebilde absoluter Symmetrie sein, also eine Kugel. Die Ästhetik verlangte aber auch, dass Zonen und Gebilde auf der Nordhalbkugel eine Entsprechung auf der Südhalbkugel haben mussten. Nun war den alten Griechen aus Berichten von Gelehrten und Händlern bekannt, dass Erdgebiete, je weiter sie im Norden lagen, um so kälter wurden. Sie wurden so kalt, dass die Sonne im Winter gar nicht mehr auftauchte.  Diese Feststellungen veranlassten im Jahr 480 v. Chr. den Gelehrten Parmenides von Elea, die Erde in fünf Zonen einzuteilen. Eine heisse Zone bedeckte genau die Grenze zwischen Nord- und Südhalbkugel. Beidseits dieser heissen Zone zogen sich zwei gemässigte Zonen dahin. In die nördliche gemässigte Zone lag zum Beispiel Griechenland eingebettet. Im äussersten Norden und Süden aber bedeckten zwei kalte Zonen die Erde. Nach damaligem Wissensstand war diese theoretische Auslegung keineswegs unlogisch.  Im höchsten Norden war Eis, also musste auch im tiefsten Süden Eis sein. Im Norden befand sich das grenzenlose Nordland, also musste auch im Süden ein gewaltiges Land liegen, sonst wäre die Symmetrie der Erde gestört.

Griechische Astronomen stellten fest, dass hoch über dem letzten Norden ein Sternbild schimmerte, das auch in Griechenland und sogar in Ägypten leicht zu erkennen war: das
Sternbild des Bären, griechisch arktos. Das Land im hohen Norden unter dem Sternbild des Bären
hiess und heisst darum Arktis. Auf der südlichen Halbkugel musste nach griechischer Auffassung
und aus Gründen der Symmetrie ein Gegensternbild flimmern, ein Ant-arktos, ebenfalls über Eis
und Schnee.

Mindestens seit der Zeit des Aristoteles halten die Menschen eine vage Vorstellung von der Antarktis. Seit damals war die Antarktis eine mächtige, sagenhafte Phantasiewelt, unnahbar, geheimnisvoll und in ungewöhnlichem Mass dazu angetan, die Einbildungskraft der Menschen anzuregen.  Die Vorstellung von der Antarktis als Antipodenwelt (Antipode, heisst wörtlich „Gegenfüssler“), welche der bekannten Welt (nördliche Hemisphäre) gegenüberliegt und sie ausgleicht, war von grundlegender Bedeutung für die Symmetrie und Ordnung, die das klassische griechische Denken von der Welt verlangte. Schon auf den ältesten Landkarten der südlichen Hemisphäre, die von Orontius und Mercator im 16. Jahrhundert angefertigt wurden, wird das Vorhandensein eines ,.grossen Südkontinents“ (Terra Australis Incognita) behauptet, obwohl eine solche Landmasse noch nie gesichtet worden war. Tatsächlich war der südliche Ozean bis zum Jahr 1700 von keinem Schiff befahren worden.

James Cooks Entdeckungsfahrten im achtzehnten Jahrhundert, die ersten, bei welchen der südliche Polarkreis überquert wurden, beendeten für immer den Traum von einem reichen südlichen Gebiet mit gemässigtem Klima, das von mythologischen Geschöpfen und Völkern bewohnt wird. Trotzdem führten seine Berichte über die reiche Fauna im südlichen Eismeer kurz darauf zur Entwicklung der Robben- und Walfangindustrie und dadurch zu den darauffolgenden Erkenntnissen über die Verletzlichkeit der Umwelt unseres Planeten, durch die die Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert so viel lernte.